Eines der bekanntesten,
aber auch sowohl aus ethischen als auch aus versuchstechnischen Gründen
umstrittensten Experimente der Psychologie ist das sogenannte
Milgram-Experiment. Die Frage, die der Sozialpsychologe Stanley Milgram in den
60er Jahren beantworten wollte, bezog sich auf die Bereitschaft ganz
normaler Menschen, sich einer Autorität zu beugen und offensichtlich
"unmenschliche" Anordnungen zu befolgen. Die Motivation für diese
Experimentalreihe lieferten die Ereignisse des 2. Weltkriegs. Wieso waren unter
dem NS-Regime so viele Menschen bereit, sich in den Dienst der
Tötungsmaschinerie der Nazis zu stellen? Lag es an einem grundsätzlichen
Charakterfehler dieser Menschen oder gibt es Situationen und Umstände, unter
denen möglicherweise jeder in der Lage wäre, andere Menschen zu quälen und zu
töten?
Die Yale University inserierte Anfang der sechziger Jahre in der
Lokalzeitung von New Haven im
US-Staat Connecticut, daß sie Probanden sucht, die bereit sind, an einem
Experiment über Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit teilzunehmen. Daß es sich
dabei nur um einen Vorwand handelt, um zu untersuchen, inwieweit sich Menschen
einer Autorität unterwerfen, ahnen die (nicht-studentischen) Teilnehmer
allerdings nicht. Die Freiwilligen werden durch den Versuchsleiter mit ihren
Rollen in diesem Experiment vertraut gemacht. Es nehmen jeweils zwei
Versuchspersonen an einem Experiment teil. Der Versuchsleiter erläutert
den Probanden, daß untersucht werden soll, welche Auswirkungen Bestrafung auf
das Lernen hat. Dazu werden die Teilnehmer durch Ziehen von Losen in Schüler
und Lehrer unterteilt. Dieses Losverfahren ist allerdings manipuliert, da in
Wahrheit immer nur ein Proband an dem Experiment teilnimmt. Er wird der Lehrer.
Die andere Person, die am Experiment teilnimmt, der Schüler, ist ein Student
der Universität, was der Proband jedoch nicht weiß. Der Versuchsleiter wurde
von einem 31jährigen Biologielehrer einer Highschool gespielt, das Opfer
spielte ein siebenundvierzigjähriger Buchhalter, der für diese Rolle
ausgebildet war; er war irisch-amerikanischer Abstammung, die meisten
Beobachter fanden ihn freundlich und liebenswürdig.
Der Versuchsleiter erläutert nun das Experiment. Der Test beinhaltet, daß
der Lernende eine Liste von Assoziationspaaren auswendig lernen soll und sein
Partner, der Lehrer, wird ihn überprüfen. Man zeigt den Versuchsteilnehmern
einen "Schockgenerator" mit einer Instrumententafel. Auf dieser
befinden sich dreißig Kippschalter. Diese Schalter sind aufsteigend angeordnet
und gehen von 15 Volt ("leichter Schock") über mittlerer und schwerer
Schock bis zu einer Voltstärke von 450 Volt. Um das den Probanden zu
verdeutlichen, war am Generator eine Plakette mit der Aufschrift "SHOCK
GENERATOR, TYPE ZLB, DYSON INSTRUMENT COMPANY, WALTHAM, MASS., OUTPUT 15
VOLTS-450 VOLTS" befestigt, die Kippschalter waren mit Voltzahlen von 15
bis 450 Volt beschriftet. Zusätzlich waren zu je vier Schaltern die
Aufschriften "Leichter Schock", "Mäßiger Schock",
"Mittlerer Schock", "Kräftiger Schock, "Schwerer
Schock", "Sehr schwerer Schock" sowie "Gefahr: Bedrohlicher
Schock" angebracht, die letzten beiden Schalter trugen die Aufschrift
"XXX".
Die Aufgabe des Lehrers besteht nun darin, jedes Mal wenn der Schüler eine
falsche Antwort gibt, die jeweiligen Schalter mit den sich steigernden
Elektroschocks zu betätigen. Nach dieser Erläuterung folgt der Lehrer dem
Versuchsleiter und seinem Assistenten in einen anderen Raum, wo ein
elektrischer Stuhl aufgebaut ist. Der Schüler nimmt auf dem Stuhl Platz und
wird an ihn gefesselt. Elektroden werden angeschlossen und mit dem Generator
verbunden. An diesem Punkt des Experiments gibt der Lernende zu bedenken, daß
er ein schwaches Herz habe. Der Versuchsleiter beruhigt den Mann mit der
Aussage, daß die Schocks zwar äußerst schmerzhaft sein können, allerdings nicht
zu dauerhaften Gewebeschäden führen.
Wie bereits erwähnt, weiß der Lernende, daß er sich keine Sorgen zu machen
braucht. Er ist der Assistent des Versuchsleiters, und die Wahl, wer Lehrer und
wer Schüler wird, ist manipuliert. Selbstverständlich ist der Lernende auch
nicht tatsächlich mit dem Stromgenerator verbunden, da es sich bei dem
vermeintlichen Schockgenerator um ein Attrappe handelt. Von all dem ahnt die
eigentliche Versuchsperson, der Lehrer jedoch nichts. Man hat ihm sogar einen
Probeschock von 45 Volt zugemutet. Er ist also fest davon überzeugt, daß das
Opfer im Nebenraum tatsächlich mit Stromstößen bestraft wird. Er hört, daß der
Schüler jedes Mal, wenn er ihn bestraft, reagiert, als würden ihm tatsächlich
Schmerzen zugefügt. Der Proband weiß nicht, daß es sich bei diesen Reaktionen
um vorher aufgezeichnete Tonbandaufnahmen handelt und daß die Antworten des
Schülers standardisiert sind.
Nun
beginnt das eigentliche Experiment. Der Lernende antwortet zu Anfang mehrmals
richtig und einige Male falsch. Bei jedem Fehler bedient der Lehrer
ordnungsgemäß den nächsten Knopf und bestraft somit seinen Schüler mit
vermeintlich immer stärkeren Stromstößen. Beim fünften Schock angelangt (75 V),
beginnt der Schüler zu stöhnen und zu klagen. Bei 150 Volt bittet das Opfer
darum, das Experiment abzubrechen und bei 180 Volt schreit es, daß es den
Schmerz nicht mehr aushalten könne. Nähert sich das Experiment dem Punkt, an
dem der mit "Gefahr: Extremer Stromstoß" gekennzeichnete Knopf vom
Lehrer betätigt werden muß, hört er das Opfer im Nebenraum an die Wand hämmern.
Der Schüler fleht regelrecht darum, daß man ihn aus dem Nebenraum befreien
möge. Der Versuchsleiter erläutert dem Probanden, daß es sich bei dieser
Reaktion natürlich um eine falsche Antwort handle und fordert den Lehrer auf,
den nächsten Schalter mit der entsprechend höheren Voltzahl zu betätigen.
Die Probanden dieses Experiments setzten sich aus einer Zufallsstichprobe
wie folgt zusammen:
Natürlich reagierten die Versuchspersonen auch emotional auf die
offenkundige Notlage ihrer Opfer. Einige protestierten, andere schwitzten, zitterten,
begannen zu stottern oder zeigten andere Zeichen der Anspannung. Dennoch
gehorchten sie den Anweisungen des Versuchsleiters. Auffällig am Verhalten der
Probanden war, daß sie häufig versuchten, ihr Opfer so wenig wie möglich
wahrzunehmen und ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Versuchsleiter zu
richten versuchten. Das geschah vermutlich, um die inneren Spannungen, die
durch die wahrgenommenen Schmerzen des Opfers hervorgerufen wurden zu mildern,
durch ein geschicktes Anpassungsverhalten die Situation zu ertragen. Dieses
Phänomen bezeichnete Milgram als "Einstimmung auf die Autorität".
Einige TeinehmerInnen bestritten, daß das Opfer tatsächlich schmerzhafte
Schocks erhielt und die viele leugneten einfach ihre Verantwortlichkeit, manche
verlangten zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Experiments zusätzlich eine
Versicherung, daß sie für ihre Handlungen nicht haftbar gemacht werden können.
Oder die Verantwortung wurde mit der Begründung auf das Opfer übertragen, daß
es sich ja freiwillig gemeldet habe. Einige Vpn versuchten Spannungen zu
reduzieren, indem sie zwar gehorchten, jedoch versuchten, die Schmerzen für das
Opfer so gering wie möglich zu halten, indem sie den Schockgenerator nur kurz
antippten oder indem sie dem Schüler die richtige Antwort durch überdeutliches
Sprechen, zu verraten suchten. Die große Mehrheit seiner Versuchspersonen, mehr
als 62 Prozent, gingen bis zum Ende der Skala (450 Volt), auch wenn einige
Versuchspersonen durch vier sich steigernde Aufforderungen des Versuchsleiters
(Bitte fahren sie fort! - Bitte machen sie weiter! - Das Experiment erfordert,
daß sie weitermachen! - Sie müsse unbedingt weitermachen! - Sie haben keine
Wahl, Sie müssen weitermachen!) dazu verbal gedrängt werden mußten:
Viele Versuchspersonen waren zwar der Überzeugung, sie sollten dem Schüler
keine weiteren Schocks versetzten, konnten dies aber nicht in die Tat umsetzen.
Vermutlich müßten sie sich im Falle eines Abruchs eingestehen, daß ihr
vorheriges Verhalten falsch gewesen war. Allein dadurch, daß sie weitermacht,
rechtfertigt sie ihre vorherige Handlungsweise. Somit ist dieser
Wiederholungscharakter bereits ein Bindungsfaktor, der es der Versuchsperson
erschwert, ungehorsam zu sein. Ein Abruch des Experiments hätte, da die
Probanden ja bezahlt wurden, auch den Charakter eines Vertragsbruchs, der nicht
leichtfertig begangen wird. Milgram weist darauf hin, daß eine soziale
Situation auch über die Selbsteinschätzung der Beteiligten definiert ist, die
von den anderen Beteiligten respektiert werden muß. Das bedeutet, daß die
Gehorsamsverweigerung auch aus dieser Perspektive ein soziales Mißverhalten
darstellt, da es nicht möglich ist, die Schockverabreichung zu verweigern, ohne
die Selbstdefinition des Versuchsleiters in Frage zu stellen.
Nach Beendigung des Experiments fand mit jeder Versuchsperson ein aufklärendes
Gespräch statt, indem ihr gesagt wurde, daß das Opfer keine Elekroschocks
erhalten hatte. Jede hatte Gelegenheit zur Aussöhnung mit dem Opfer und zu
einem ausführlichen Gespräch mit dem Versuchsleiter. Den ungehorsamen Probanden
wurde das Experiment in einer Weise erklärt, die ihren Ungehorsam positiv
bewertete, bei den gehorsamen wurde betont, daß ihr Verhalten und ihre
Reaktionen normal gewesen seien. Nach Abschluß der Versuchsreihe erhielten die
Teilnehmer einen ausführlichen Bericht, sowie einen Fragebogen, indem sie
erneut ihre Gedanken und Gefühle bezüglich ihrer Teilnahme des Experiments
ausdrücken konnten.
Milgrams Experiment wurde vielfach wiederholt und in allen Fällen ließ sich
ein signifikantes Maß an Gehorsam feststellen. So wurde das Experiment z.B. in
Australien, Jordanien, Spanien und Deutschland wiederholt. Überall
reagierten die Menschen ähnlich wie in Milgrams Versuch. Des weiteren zeigte es
sich, daß Frauen sich ebenso gehorsam
verhalten wie Männer.
Milgram wurde für dieses Experiment heftig kritisiert. Man warf ihm vor, daß
er die Regeln der Ethik
in der psychologischen Forschung aufs Schwerste verletzt habe. Er habe
den Versuchspersonen geschadet, indem er ihnen ein Stück Selbsterkenntnis
aufzwang, das bei einigen der Probanden ein Trauma hinterlassen haben könnte. Einmal
ganz davon abgesehen, daß die Versuchspersonen schlichtweg getäuscht worden
sind. Milgram stellte dem entgegen, daß in Nachbefragungen 83,5 Prozent der
gehorsamen Versuchspersonen und 83,3 Prozent der Ungehorsamen angaben, sie
seien froh, an dem Experiment teilgenommen zu haben.
Milgram, Stanley (1993). Das Milgram Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft
gegenüber Autorität. Reinbeck: Rowohlt.
In einer Erweiterung des Experiments hat Milgram später gezeigt, daß der
Anteil der bedingungslos gehorchenden Probanden drastisch abnimmt (auf 10 %),
wenn sie zwei weitere "Lehrer" an ihrer Seite haben und diese dem Versuchsleiter
Widerstand entgegen setzen (Milgram 1965). Hinzu kommt, dass die Autorität des
Versuchsleiters in diesen Studien von einem Wissenschaftler eines angesehenen
Instituts der Yale Universität ausging. Was sozusagen per se eine
Interpretation der Versuchsteilnehmer zuließ, an einem bedeutenden
wissenschaftlichen Experiment bzw. an einer bedeutenden wissenschaftlichen
Fragestellung mitzuwirken. Milgram selbst belegte diese Annahmen durch eine
weitere Modifikation der Baseline seines Experiments. Er führte eine Reihe von
Einzelstudien durch, in denen er die Gehorsamsbereitschaft seiner
Versuchspersonen gegenüber eines Mitarbeiters der Yale Universität mit dem
Gehorsam gegenüber eines Wissenschaftlers, dessen Arbeitsplatz sich in einem
verwahrlosten Bürogebäude eine Geschäftsviertels in Bridgeport (Connecticut)
befand, verglich. In dieser vergleichenden Studie stellte Milgram fest, daß in
dem Experiment des Wissenschaftlers der Yale Universität 65 % der
Versuchspersonen absoluten Gehorsam leisteten, während es in dem in Bridgeport
durchgeführten Experiment 48 % waren. Daraus lässt sich folgern, daß fehlendes
Ansehen auch die Bereitschaft zum Gehorsam reduziert.
In einer weiteren Abwandlung des Experiments untersuchte Milgram, was
geschah, wenn der Versuchsleiter in letzter Minute durch eine Ersatzperson
ersetzt wurde. Nachdem dem Lehrer seine Rolle in dem Experiment erläutert
worden war (allerdings noch bevor dem Probanden die Höhe der E-Schocks bekannt
war), rief man den Versuchsleiter durch ein fingiertes Telefonat aus dem Labor.
Ein anderer Teilnehmer (ein Gehilfe des Versuchsleiters) übernahm seine Rolle.
Dieser Ersatzmann tat nun so, als wäre es seine Idee, die Elektroschocks nach
jedem Fehler des Schülers zu erhöhen. Ansonsten verhielt sich der Ersatzmann
ebenso wie der Versuchsleiter. Er bedrängte den Lehrer ebenso, mit den
Elektroschocks weiterzumachen, wie es auch der Versuchsleiter getan hätte. In
dieser Variante des Experiments sank die Zahl der absolut gehorsamen
Versuchspersonen auf 20 Prozent. Damit war bewiesen, daß eine ausreichend
legitimierte Autorität ein hohes Maß an Gehorsam den einzelnen Personen
abverlangen kann, nicht jedoch eine beliebiger Mensch, der in die Rolle einer
solchen Autoritätsfigur zu schlüpfen versucht.
In weiteren Varianten des Experiments stellte Milgram fest, daß die Anzahl
der absolut gehorsamen Versuchspersonen auf 25 Prozent sank, sobald der
Versuchsleiter sich außerhalb des Raumes befand und seine Anweisungen per
Telefon gab. Hinzu kam, daß einige Probanden, die das Experiment zwar
fortsetzten, anfingen zu mogeln. Dies äußerte sich z.B. dadurch, daß sie dem
Schüler schwächere E-Schocks verabreichten als das Experiment es eigentlich
vorgab. Sie dachten auch nicht daran, dies dem Versuchsleiter etwa mitzuteilen
und so zu verdeutlichen, daß sie von dem vereinbarten Verfahren abgewichen
waren. Sie versuchten dadurch einerseits, den Anforderungen des Versuchsleiters
gerecht zu werden und konnten andererseits ihren inneren Konflikt auflösen,
indem sie die Schmerzen, die sie einem anderen Menschen zufügten, so gering als
nur möglich zu halten.
Das Gefühl, verantwortlich für das eigene Handelns zu sein, nimmt auch ab,
wenn man sich als Teil einer größeren Maschinerie sieht. Milgram wies dies mit
einer weiteren Variante seiner Versuchsparadigmen nach. In dieser Variante des
Experiments waren es zwei Lehrer, die einen Schüler unterrichteten. In diesem
Fall war der zweite Lehrer die echte Versuchsperson. Ihre Aufgabe war es, die
Aufgaben zu verlesen und die Richtigkeit der Antworten zu überprüfen. In einer
solchen Konstellation waren es 92,5% der Versuchspersonen, die den anderen
Lehrer, also den, der die Elektroschocks ausführte, nicht daran hinderte, die
maximalen Stromstöße zu verabreichen. Auch in der australischen Replikation von
Wesley Kilham und Leon Mann machten die Versuchspersonen in der Helferrolle
signifikant häufiger bis zum Ende mit als im Standardexperiment. Die
Gehorsamsbereitschaft war allerdings deutlich niedriger als in der von Milgram
durchgeführten Untersuchung.
In einer weiteren Abwandlung des Experiments stellte Milgram fest, dass
seine Versuchspersonen eher bereit waren, den Anweisungen des Versuchsleiters
zu folgen, je weiter sie von ihrem Opfer entfernt waren. Hatten die
Versuchspersonen Augenkontakt zu ihrem Schüler, waren nur 40 Prozent bereit,
das Experiment fortzuführen, während es noch 62 Prozent waren, wenn sie
"nur" die Schreie ihres Opfers hören konnten. Ähnlich verhielt es
sich mit Versuchspersonen, die aufgefordert worden waren, den Arm des Schülers
auf die stromführende Platte herunterzudrücken, anstatt den weiter entfernten
Schockgenerator zu benutzen (30 Prozent).
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Fernraum |
Akustische Rückkopplung |
Raumnähe |
Berührungsnähe |
Durchschnittlich gegebene Maximalschock in Volt |
405 |
367,5 |
312 |
268,2 |
Prozentsatz völlig gehorsamer Vpn |
65 % |
62,5 % |
40 % |
30 % |
stanley milgram.com
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