Es gibt kein drittes Land
Roma: Aus dem Kosovo flüchten Menschen,
von denen bisher nie die Rede war.
 





   
   
Sie waren nicht existent, keine Prozentzahl wurde ihnen zugebillig. Es gab sie nicht - weder für die Weltmächte, noch für die Medien, die ganze Völker ins helle Licht setzen oder unsichtbar  machen können.  

Die Roma blieben unsichtbar. In all den Jahren, in denen über die Konflikte auf dem Kosovo berichtet wurde, in allen Analysen der Kämpfe zwischen der albanischen UCK und serbischen Truppen und Milizen kamen die Roma und anderen nichtalbanischen und nichtserbischen Bevölkerungsteile nicht vor. Dabei stellen die Roma mindestens zehn Prozent der Bevölkerung des Kosovo. Auch in den Bildern und Erzählungen von der furchtbaren Fluchtbewegung aus dem Kosovo während der Bombardements nahm niemand sie war. Roma waren immer dabei. Und sie kehrten mit den Albanern zurück. Nun aber, nachdem die Nato den Kosovo besetzt hat, füllen sie wieder die verlassenen, halb demontierten Zeltlager, die längst aufgelöst werden sollten. Sie sitzen in den grünen und weißen Armeezelten, und können die Kinderkritzeleien auf dem harten Zeltstoff betrachten,  die UCK-Symbole, Namen der albanischen Helden, Nato-Flugzeuge im steilen  Flug. 

Die Roma leben im Kosovo - wie auch in anderen Balkanländern - in eigenen Dörfern oder inmitten und am Rand von Dörfern und Städten zwischen Albanern und Serben. Sie leben hier keineswegs als verstreute und umherziehende Familien, sie entsprechen überhaupt nicht den deutschen Klischees vom Zigeunerleben. Sie wohnen und arbeiten  seit Jahrhunderten hier, in Häusern, umgeben von Ställen und Werkstätten, die sie oft mit dem Geld, das Väter und Geschwister in Deutschland verdienten, erweitert und ausgebaut haben. Jetzt sind diese Häuser als Ruinen zu besichtigen, rund 20 000 Häuser, ganze Siedlungen zwischen intakten Dörfern.  

Wieviele Roma gibt oder gab es im Kosovo?  Alle möchten Zahlen hören: die Medien, die Hilfsorganisationen, die NATO-Instanzen, die Anrainerstaaten, die von Flüchtlingen aus dem Kosovo erschöpft sind. Aber woher die Zahlen? Vielleicht werden jetzt alle Menschen auf diesem Stück Erde präzise durchgezählt werden. Im Kosovo wurde 1991 zum letzten Mal gezählt, da gaben 150 000 Menschen Roma als Nationalität an. Viele trugen sich aber auch als Jugoslawen ein, andere - je nach dominanter Sprache - als Albaner oder Serben. Roma-Organisationen meinen, sie seien viel mehr, ihre Vermutungen gehen über die Zahl 350 000 bis zu 500 000. Die Zahlen der nach Montenegro, Serbien und Makedonien geflüchteten Roma wird von den UN-Organisationen auf 120.000 geschätzt.  

Es gibt unter ihnen sehr verschiedene Gruppen, ein Teil ist muslimisch, ein Teil christlich. In diesen Monaten wird keine Gruppe, ob mehr mit den Albanern oder mehr mit den Serben verbunden, von dem albanischen Streben ausgenommen, die Gelegenheit zu einem ethnisch reinen Kosovo zu nutzen. Die Herkunft und Vergangenheiten der Roma-Gruppen sind Legenden. Daß sie einst aus Indien kamen, war lange unbekannt oder vergessen. Neben den Roma git es im Kosovo die Ashkali oder Hashkari. Nach ihrer Überlierferung kamen sie in der Zeit Alexander des Großen aus Ägypten hierher und waren die ersten Bewohner des Kosovo. In dem Ashkali-Dorf Dubrava erzählt Bajram, daß drei seiner Söhne und Töchter in Prishtina leben und niemand dort wisse, daß sie Ashkali sind. Sie sind Moslems, tragen die gleichen Namen wie die Albaner, haben ihre Toten auf denselben Friedhöfen beerdigt. Ihre Sprache ist nicht Romanes, sondern albanisch. Sie verbergen sich in der albanischen Bevölkerung. Nur eine zu dunkle Hautfarbe könnte sie verraten.  

Bajram streicht dem siebenjährigen Sohn zärtlich und zuversichtlich durch sein helles Haar. "Wohin sollen wir gehen?" fragt Bajram. "Wir müssen hier sterben." Das ganze Dorf von 130 Familien mit fast 1000 Seelen will im Kosovo bleiben. Wenn sie stillhalten, unbemerkbar sind, eine Zeitlang nicht das Dorf verlassen, bleibt ihnen vielleicht eine Chance. Ob die Gefahr des Verschwindens als ethnische und kulturelle Gruppe besteht, ist vorerst kein Thema. Das Holz ist ihnen ausgegangen, sie haben schon den Fußboden eines leeren Hauses auf ihrem Anwesen für das Kochen kleingeschlagen. Der alle, Albaner und Serben und Roma, bedrohende Winter naht, Grundnahrungsmittel erhalten sie in großen zeitlichen Abständen von einer humanitären Organisation, das letzte Mal vor vier Wochen Mehl und Bohnen. 

Bajram meint, die Ashkali seien die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe im Kosovo, gleich nach den Albanern. Das ist seine Schätzung. Die Albaner haben es vorgemacht, wie Zahlen zu Argumenten werden, wie sie die moralische Berechtigung von Hilfeersuchen, Schutzwünschen oder eben der Forderung nach dem eigenen Staat zu untermauern scheinen. Die Roma und Ashkali sind die letzte Gruppe im Balkan, die kenen Staat fordert. Das kommt jetzt in ihren Klagen immer wieder vor:  

"Für Roma gibt es nirgendwohin einen Weg. Sie waren bei allen Völkern gut. Sie haben nie etwas Schlimmes angerichtet. Nur, daß wir nicht unseren Staat haben. Wir wollen nichts anderes, als daß uns niemand etwas tut, daß wir keine Angst haben müssen", sagt Sabrija Jasari, die aus dem Dorf Lipljan im Kosovo nach Makedonien geflüchtet ist. Und ihr Mann fügt an: "Sehen Sie, die Albaner sind alle schwer geschlagen. Ich habe gesehen, daß ihre Häuser verbrannt sind, ihre Kinder malträtiert, getötet wurden, ich bin nicht gegen sie. Aber sie haben den Krieg gewollt und sie haben ihn bekommen. Wer den Krieg will, bekommt das Seine. 19 Staaten haben ihnen geholfen. Uns hilft keiner, außer Makedonien, das uns aufgenommen hat." 

Roma müssen sich jetzt überall rechtfertigen. In gewisser Weise standen sie immer zwischen den beiden Hauptvölkern des Kosovo. In friedlichen Zeiten ist da genügend Platz. Mit dem jugoslawischen Staat und so auch mit den Serben verband sie die Tatsache, daß sie erstmals alle staatsbürgerlichen und sozialen Rechte genossen, Berufe erlernten und Bildung  für sie bis zur Hochschulreife zugänglich war. Wenn sie zur Arbeit nach Deutschland kamen, war den hiesigen Kollegen meist nicht bewußt, daß sie mit Roma zusammenarbeiteten. Sie waren alle Jugoslawen, Jugoslawien bot ihnen Schutz und Ansehen, es war ihr Staat und Tito der hochgeschätzte Politiker.  

Heute wird ihnen von Nationalisten beider Seiten Illoyalität angelastet. Die Vorwürfe von albanischer Seite, sie hätten sich an Massakern serbischer Milizen beteiligt, sind bislang in keinem Fall bis zur gerichtlichen Formulierung gelangt. Es gibt keine Beweise, es sind Gerüchte und Unterstellungen, die das schlechte Gewissen beruhigen sollen. Denn mit ihnen schickt man die am wenigsten Schuldigen ins Unglück, die einzigen, die selbst niemanden vertreiben wollen. An den Vertreibungen, die fast immer nach demselben Muster ablaufen, beteiligen sich UCK-Kommandos, Banden, Nachbarn. Es beginnt mit Drohungen, bis die berühmten maskierten nächtlichen Eindringlinge auftauchen, das Gewehr im Anschlag, und endet mit dem hastigen Weglaufen der Familien in ein Flüchtlingscamp. Manchmal sehen sie noch von weitem, wie ihr Haus in Flammen aufgeht. Manchmal berichten die Nachkommenden, wie das Haus geplündert und zerstört wurde. Das Beängstigende für die Roma liegt im Zusammenspiel der nationalistischen Ideologie mit dem kriminellen Milieu und dem Eifer von normalen Mitbürgern. 

In Macedoniens Hauptstadt Skopje ist ein ganzer Stadtteil von Roma bewohnt. Er heißt Suto Orizari, kurz Sutka genannt. Hier wurdenviele Flüchtlingsfamilien aufgenommen. Der Bezirksbürgermeister dieses Ortes, Nezdet Mustafa, gehört zu jenen Roma, die die Hochschule absolviert haben. Er hat Philosophie studiert und hängt jetzt ein Studium der politischen Wissenschaften an. Außerdem hat er ein Rom-TV in Sutka gegründet. Er verkörpert einen neuen Anspruch der Roma - an sich selbst und an die Gesellschaft. "Unsere Geschichte ist tragisch. Das einzige Gute ist, wir werden jetzt erstmals selbst unsere Geschichte schreiben", sagt er und erklärt: "In Kriegsfällen will jede Seite ihre Kräfte stärken. Jede Gruppe will die Roma auf die eine oder die andere  Seite ziehen. Aber die Roma haben keine militärischen Ambitionen. Wofür sollen sie kämpfen? Sie haben kein Vaterland, kein Territorium, wo sollten sie ihre physische Kraft investieren und für was sollten sie kämpfen? Jeder hatten im Kosovo seine Interessen. Die Serben wollten das Land nicht hergeben, während der Kosovo die Abspaltung wollte. Was ist mit den Roma? Wir haben Informationen, daß beide Seiten sie mit Gewalt mobilisiert haben, in die Häuser eingedrungen sind, sie in den Kombi gesetzt haben, ihnen eine Waffe gegeben haben und hin zum Schlachtfeld... " 

Eines der UNHCR-Camps für Roma-Flüchtlinge, das innerhalb des Kosovo liegt, befindet sich in Krusevac oder albanisch Krushevci. Aus den Zelten dieses Lagers zog vor drei Wochen eine große Gruppe verzweifelter Roma mit Kind und Kegel aus, um in ein anderes Land zu gelangen. Von rund 1200 Lagerinsassan entschlossen sich 900 zu dem Aufbruch. Als sie die Straße erreichten, verhandelte die Kfor nochmals mit ihnen und versprach Busse für den Fall, daß der Übergang in ein anderes Land möglich würde. Ein Drittel kehrte wieder um. So gingen die übrigen 450 den Tag über in Richtung Serbien, 23 Kilometer schafften sie, mit den Alten, den Kindern, den Kranken. Dieser Marsch ist ihr Trauma: Sie wurden mit Steinen beworfen, Kinder beleidigten sie, irgendwo stürzte sich ein Mann in ihre Reihen und schlug mit dem Spaten auf einen Roma ein und verletzte ihn schwer am Hals. Dann kamen UNHCR-Busse, um sie an die serbische Grenze zu bringen. Doch hier ließ man sie nicht hindurch, obwohl sie jugoslawische Staatsbürger sind. Die Nacht verbrachten sie an einer leeren Tankstelle, einige kehrten von hier aus demoralisiert in ihr Camp zurück.  

Die Odyssee endete vorerst an der makedonischen Grenzstation Blace. An einem Höllenort: Vor der viel zu schmalen Passage stauen sich 20 - 30 km weit LKWs mit Waren und Baumaterialien für den Kosovo. In Schüben werden sie hindurchgelotst, zwischen PKWs. Jeeps, Einzelreisenden zu Fuß, Kindern, die Cola verkaufen. Die LKWs nehmen oft beide Fahrspuren in Besitz, die entgegenkommenden Wagen fahren über die Streifen am Rand und wirbeln den Sand auf, der vermischt ist mit dem Staub aus einer Asbestfabrik und einem Betonwerk unterhalb der Straße. Alles ist bedeckt vom hellbraunen Staub, vermischt mit verrottenden und vergilbenden Plastikabfällen und Papier. Als hätte ein Sturm eine Müllhalde aufgewühlt und hierher getrieben.

In diesem Dreck und Krach haben die 450 Roma eine Woche lang ausgeharrt. Zwei Tage vorher hatte die makedonische Regierung das Ende der Flüchtlingsregelungen erklärt, auf die sie sich während des Nato-Bombardement eingelassen hatte. Niemand soll mehr ins Land. Die UN-Lager sollen bis zum 15. Oktober aufgelöst werden. Die schon anwesenden Flüchtlinge sollen in Gastfamilien, also privat, untergebracht werden. Die UNHCR hat die 450 mit Lebensmitteln und zwei Clos versorgt. Die Roma-Organisationen aus Makedonien haben alles in Bewegung gesetzt, die Tür des Landes doch noch einmal zu öffnen. Sicher haben auch andere mit der Regierung verhandelt,  Hilfsorganisationen, die UN, Botschafter. Nach acht Tagen gelang es: die Gruppe, die aussah, als käme sie aus dem Krieg, wurde eingelassen und in das berühmte Camp Stenkovac gebracht. 

Jene, die den Auszug nach Makedonien nicht mitgemacht haben und ins Camp Krusevac zurückgekehrt sind, warten dort auf eine Lösung. Theodor Fründt von der "Gesellschaft für bedrohte Völker" besucht das Zeltlager und ist sofort umringt von den Bewohnern. Tief deprimierte Gesichter, müde, ernst, matt. Sie bedauern ihre Kleingläubigkeit, sie fühlen sich betrogen, denn niemand kommt mehr auf das Angebot zurück, sie in ein anderes Land zu bringen. Das Lager ist eng, in den Gräben vor den Zelten modriges Wasser, aus Ofenrohren, die aus den Zelten geschoben sind, Rauch. Jede Nacht wird das Camp mit Steinen beworfen. Ein Zelt in der Nähe des Zauns ist mit einem scharfen Messer zerschnitten worden. Die Männer halten Nachtwache, aus Angst, es könnte sich jemand einschleichen und einen von ihnen umbringen. Die Kforstelle ist nah, und doch sind sie verlassene Menschen.  

Was wird im Winter? Will denn niemand ihnen helfen? Warum ihnen nicht, wo doch die Welt den Kosovo mit Hilfe überschüttet? Gibt es kein drittes Land, das bereit ist, sie aufzunehmen? Sie bekommen Nahrungsmittel, aber keine Kleidung. Ein Arzt kommt alle zwei Tage, aber genießt nicht ihr Vertrauen. Das Camp wird von der italienischen Hilfsorganisation ICS (S für Solidarität) verwaltet, die dazu den Auftrag der UNHCR erhielt.  

Der junge italienische Campmaneger will Fründt loswerden. Die "Gesellschaft für bedrohte Völker" würde Unruhe stiften, behauptet er und fordert Fründt auf, das Camp verlassen. Er holt die nahe Kfor-Polizei, ihr Jeep  fährt mit Schwung vor, ein Amerikaner nimmt die Personalien von Fründt auf. Die Roma sehen dem finster zu. Ein Wort, und die Wut würde aufflammen. Schon sagt einer herausfordernd: Wir wollen, daß der Mann hierbleibt, der einzige, der sich richtig um uns kümmert. Der Amerikaner, der in Kripomanier die Daten aufschreibt, ohne auf die Fragen des vermeintlichen Deliquenten zu antworten, belehrt plötzlich Fründt grinsend: er halte sich ohne Visum auf dem Territorium des Staates Jugoslawien auf. Er verstoße gegen jugoslawische Gesetze! 

Bürgermeister Nezdet Mustafa wird gegen die internationalen Institutionen scharf: "Das Kommissariat der UNHCR für Flüchtlinge verhält sich sehr nachlässig gegenüber den Roma. Sehen Sie, was jetzt im Flüchtlingscamp Stenkovac los ist: das ist ein KZ! Die Roma dürfen es nicht verlassen, Journalisten haben Probleme, hineinzukommen. Das ist eine direkte Direktive von UNHCR-Seite.Ich denke, es ist eine Verstoß gegen ihre Regeln. Und ich glaube, daß die Dokumentation, die wir vorbereiten, zu einem Gerichtsprozeß mit der UNHCR führen wird. Wir haben Dokumente, daß sie ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt hat." 

Die Tochter der oben genannten Familie, die aus Lipljan geflüchtet ist, erzählt am Schluß unerwartet:"Ein Nachbar von uns, ein Siptar, ein Albaner, ist hierher nach Skopje zu uns gekommen, hat gesagt, wir sollen zurückkehren. Aber nachts könne er uns nicht schützen. Er kann nichts garantieren. Da haben wir gesagt: Wir kommen nicht. Warum rufst du uns, wenn man uns da tötet? Er hat geweint und ist zurückgegangen." 
 

Marina Achenbach 

  Aus »Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung« Berlin , Nr.42 vom15.10.1999 

  





e-mail


Home | Il curatore del sito | Oriente, occidente, scontro di civiltà | Le "sette" e i think tank della destra in Italia | La cacciata dei Rom o "zingari" dal Kosovo | Il Prodotto Oriana Fallaci | Antologia sui neoconservatori | Testi di Costanzo Preve | Motore di ricerca | Kelebek il blog